Interview Interview Gael García Bernal
SIE HABEN BEREITS BEI ¡NO! MIT PABLO LARRAÍN GEARBEITET. WIE WAR DIE NEUE ERFAHRUNG MIT IHM?
Das erste Mal war es für mich, wie mit einem Fallschirm abgeworfen zu werden, in eine Film-Familie, die sich bestens kennt und aufeinander abgestimmt ist. Alle gaben mir das Gefühl, Teil einer kreativen Gruppe zu sein, die jemanden von draußen brauchte, um ¡NO! Zu machen. Bei Neruda kam diese Familie wieder zusammen, filmbesessen, hochprofessionell, inspiriert von den Werken Nerudas. Ich spreche nur von Nerudas Werk, weil im Leben eines Dichters von solchem Format die Werke seine Lebensschöpfung sind. Um solche Gedichte zu schreiben, muss der Dichter größer sein als das Leben.
Pablo Larraín kannte uns alle sehr gut, Schauspieler und Crew, und war in der Lage, unser Potential einzuschätzen. Deswegen waren wir in der Lage, uns in diesen Film mit seinen epischen Dimensionen hineinzugraben, quer durch die Anden, mit Schneefeldern und Verfolgungsjagden – und immer fokussiert zu sein auf den subtilsten und sublimsten Aspekt, die Dichtung.
WIE HABEN SIE SICH IHRER FIGUR GENÄHERT, DIESEM SPÜRHUND, DER DURCH SEINE BEUTE EXISTIERT?
Ich glaube immer mehr, dass die Antwort auf interessante und drängende Fragen zuerst durch den Körper stattfinden. So hat der Peluchonneau angefangen, Gestalt anzunehmen, in Gesten, Haltungen, äußerlichen Merkmalen. Sein großer Wunsch ist es, ein „großer Polizist“ zu sein, obwohl er ein Bastard ist, eine Film-Noir-Figur ohne Vergangenheit und Zukunft: Der Bulle, der im Stehen schlafen kann, ein Auge halb geschlossen, der immer gleich gekleidet ist, der sich nicht an Höflichkeiten und Konventionen hält. Pablo Larraín und ich haben lange über die Figur nachgedacht, bis der Körper seine Seele bekommen hat: Das passierte in dem Moment, als wir entschieden, dass Peluchonneau der Sohn einer Prostituierten sei. Der Paria kommt zurück, um sich einen Namen zu machen, sichtbar zu werden, indem er sich an einem Schöpfer lebendiger Momente wie Neruda misst. Was macht ein Polizist, um einen Dichter zu hassen? Er lässt sich von ihm faszinieren. Der Archetyp des Nachkriegs-Konservativen, einer, der seine Niederlage verinnerlicht hat, missgünstig, mit all den Unsicherheiten, die an der Oberfläche aufscheinen – das war der erste Schlüssel zu Peluchonneau.
SEHEN SIE DEN PELUCHONNEAU EHER ALS TRAGISCHE ODER ALS KOMISCHE FIGUR?
Beides. Im Grunde operiert Peluchonneau mit der simplen Logik der Faschisten, dass alle verrecken können, wenn es nur der eigenen Familie gut geht. Es will ihm nicht in den Kopf, dass Pablo Neruda eine neue Vison der Welt, des Lebens, der Liebe vorschlägt, wenn er doch nicht einmal imstande ist, eine ordentliche eigene Familie zu haben. Er ist voller Ressentiments und Ärger, weil er ständig als Trottel behandelt wird. Nun will er beweisen, dass er kein Idiot ist, was ziemlich daneben geht. Das ist tragikomisch. Wir haben den Peluchonneau nicht bewusst als komische Figur angelegt, das ist etwas, was sich entwickelt hat: sein Schnurrbart, seine Art zu gehen, der Ernst, mit dem er alles um sich herum behandelt. Er hat manchmal etwas von einem erfolglosen Schriftsteller. Das Schöne ist, dass man ihn unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten sehen kann.
SEHEN SIE DEN FILM ALS EINE AUSNAHME IM AKTUELLEN KINOSCHAFFEN?
Ich denke, dass es zur Zeit nur sehr wenige Filme wie diesen gibt. Ich rede dabei weniger von seinem Charakter als „Freestyle-Biopic“, sondern von dem kontroversen und komplexen Thema, das er behandelt: Die poetische Welt beziehungsweise die Welt der Dichtung und Fiktion. Das Kino ist ein fantastischer Ort für Gefühle und ihre intellektuellen und narrativen Konsequenzen. Um zu sein, was es sein will, braucht das Kino das Wort nicht. Der Ausgangspunkt dieses Films aber ist das Wort, das gefährliche Wort, dass dich dazu bringt, dich zu verlieben, das Wort, das neue Welten erschafft. Die Figuren sind im Verlauf der Geschichte in diesem Wirbelwind gefangen. Sie leiden, weil sie sich von den Zwängen poetischer Schöpfung nicht befreien können. Und es ist offensichtlich, dass es der Dichter ist, der diese Sprache spricht, der sie zurück zur Erde bringen kann, indem er sie gleichzeitig zum Mythos und zur Wahrheit macht. Mir fällt im heutigen Kino kein anderer Film ein, dem es geglückt ist, in diesen Untiefen zu navigieren und gleichzeitig so unterhaltsam zu sein wie „Neruda“.
WELCHE BEZIEHUNG HABEN SIE ZU DEN GEDICHTEN VON PABLO NERUDA?
Natürlich! Wenn man Lateinamerikaner ist, ist man mit Neruda aufgewachsen. Man liest ihn in der Schule. Von ihm haben wir die Worte gelernt, um Liebesbriefe zu schreiben. Er hat diese Liebesgedichte geschrieben, als er zwanzig war. Später kamen die Gedichte des Zorns, über die Ungerechtigkeit, die Rüstzeug der Bewegung wurden, die es damals in ganz Lateinamerika gab. In der Zeit, in der unser Film spielt, gab es die Trennung von Politik und Kunst nicht, die heute von allen so vehement gefordert wird. Es war völlig normal, sich politisch einzusetzen. Nerudas Gedichte haben den Forderungen und Nöten der Leute eine Stimme gegeben, sie haben auf lange Sicht mit dazu beigetragen, dass 1971 zum ersten Mal eine sozialistische Regierung, die Unidad Popular mit Salvador Allende, demokratisch gewählt wurde. Ich denke, die Politik heute braucht mehr Poesie.